Als systemische Berater (stellvertretend für Coach und Supervisor) stehen wir oft vor der Frage, ob wir ein agiler Experte sein müssen, wenn wir Einzelpersonen, Teams oder Gruppen in Organisationen begleiten, die agil arbeiten. In der Regel ist kein explizites agiles Expertentum gefordert, sofern es in der Beratung nicht um die Einführung von agilen Methoden u. ä. geht, sondern mehr um Reflexionen in Teams geht. Trotzdem trägt ein solides agiles Wissen zum Verstehen bei. Vielmehr ist es wichtig, eine systemische Beratungshaltung zu entwickeln und zu überlegen, ob und wie sich Beratungsprozesse aus systemischer Sicht aufgrund der Agilität in der Organisation verändern.

Grundsätzlich ist die Arbeitsweise der Organisation für eine Beratung unerheblich, lediglich die Fragestellungen oder Themen, mit denen sich beispielsweise Teams auseinandersetzen, können anders als bisher sein und beeinflussen auf diese Weise den Prozess. Natürlich ist ein Grundverständnis von Agilität wichtig, um an die Denkmuster des zu beratenden Systems ankoppeln und um Herausforderungen der zu Beratenden einordnen zu können. Für die reine Prozesssteuerung kann jedoch auf „alt bewährte“, also auch nicht agile Vorgehensweisen zurückgegriffen werden.

Nichtsdestotrotz gibt es einige Überschneidungen in der Haltung zwischen agilem und systemischem Arbeiten.

Schauen wir zunächst auf die Kernkonzepte der Agilität. Im Zentrum stehen:

  • Kundenfokus: Orientierung an den Bedürfnissen der Kunden
  • Schnelle Reaktion auf sich fortwährend ändernde Rahmenbedingungen
  • Komplexität
  • Selbstorganisation im System und beim Einzelnen
  • Aus Fehlern lernen können und dürfen
  • Neue Arbeitsmodelle und Formen der Zusammenarbeit, die sich an den genannten Punkten orientieren

 

Spannend ist, dass das Konzept der Agilität auf den Grundannahmen der Systemtheorie aufbaut. Hier kann beispielsweise auf den amerikanischen Soziologen Talcott Parsons verwiesen werden, der vier Funktionen identifiziert hat, die jedes System erfüllen muss, um seine Existenz zu erhalten.

  • A (Adaption): Das System muss die Fähigkeit haben, auf die sich verändernden äußeren Bedingungen zu reagieren.
  • G (Goal Attainment): Das System muss Ziele definieren und verfolgen bzw. die Fähigkeit haben, das Ziel nicht aus den Augen zu lassen.
  • I (Integration): Für das System sind Kohäsion bzw. Zusammenhalt sowie Inklusion zentral, was bedeutet, dass die Fähigkeit bestehen muss, agile Aspekte und Elemente in der Organisation zusammen zu halten.
  • L (Latency): Schlussendlich müssen grundlegende Strukturen und Wertmuster aufrechterhalten werden, womit die agile Arbeitsweise gemeint ist.

Selbstverständlich kann auch auf Niklas Luhmann zurückgegriffen werden.

Wenn wir über Agilität sprechen und uns dabei auch auf die Grundannahmen der Systemtheorie beziehen, befinden wir uns in der komplexen Welt (Vergleiche: Cynefin Modell). D.h. wir können nicht in Ursache-Wirkung-Mustern denken. Es existieren keine kausalen Zusammenhänge, sondern wir versuchen, das Komplexe kompliziert durch kleine Schritte zu machen: wir probieren aus, erkennen, reflektieren und reagieren.

Im Detail heißt das: beobachten, ausprobieren und die Wirkung des Handelns beobachten. Es geht also um Prozesse des Erkennens, Reflektierens und Entscheidens/Reagierens: immer wieder muss überprüft werden, ob eine Veränderung hilfreich war und sie beibehält oder, ob man (noch einmal) verändert, ausweitet oder aber auch aufgibt.

Das heißt, dass in der komplexen Arbeitswelt langfristige Planungen nicht haltbar sind, da die Welt dynamisch ist und Pläne schnell veralten. Deshalb wird auf Sicht geplant: nur den nächsten und ggf. übernächsten Schritt. Kleine Schritte werden genutzt, um sich dem Ziel zu nähern. So kann schnell überprüft werden, ob der Schritt hilfreich und tragfähig ist oder ob es Änderungen bei den kommenden Schritten eingeführt werden müssen. Damit sind auch Berater in diesen „unsicheren“ Prozess eingebunden: auch wir können nicht immer absehen, was passiert, wenn wir agieren. Daher müssen Berater hoch wachsam und aufmerksam sein und selbst Lust an immer wieder neuen Aspekten und Erfahrungen haben – und damit auch agil sein – und können sich nicht einfach auf einem vermeintlich einmal Erreichten „ausruhen“.

Die agile Arbeitsweise lebt somit von iterativen Schritten, ebenso wie in Transformationen in iterativen Schritten vorgegangen werden sollte. Denn: es ist besser früh Fehler zu machen und daraus zu lernen und nicht erst nach zwei Jahren Arbeit etwas „in den Mülleimer“ zu werfen, weil es doch nicht funktioniert.

Lassen Sie uns einen Blick auf die Zusammenhänge zwischen agilem und systemischem Arbeiten werfen und schauen, weshalb die systemische Haltung und Vorgehensweise in Beratungen vieles gemein mit der agilen Haltung hat.

 

Systemische Interventionen:
Systemische Interventionen und komplexe Situationen haben folgendes gemein:  Ausgang und Wirkung können nicht vorhergesagt werden. Häufig ist die Frage, aber insbesondere die Lösung am Beginn der Intervention bzw. der Beratung nicht klar. Deshalb wird mit der systemischen Schleife gearbeitet, um Klarheit zu erlangen:
1. Informationen sammeln und Einsichten generieren
2. Hypothesen bilden
3. Intervention planen
4. Intervenieren und dann beginnt es wieder bei 1. Informationen sammeln etc.
Die Systemische Schleife ist somit dem iterativen Vorgehen im agilen Arbeiten sehr nah.

 

Lösungsorientierung und Ergebnisoffenheit:
In der systemischen Beratung ist ebenso wie im agilen Arbeiten Ergebnisoffenheit zentral:
Wir können nichts vorhersagen und folgen deshalb dem oben beschriebenem, schrittweisen Vorgehen. Dieses inkludiert, dass wir lösungsorientiert arbeiten und Abstand von der Problemorientierung nehmen. Der Fokus liegt somit auf dem Ausprobieren und Reflektieren von neuen Wegen und nicht in der stark problemorientierten Auseinandersetzung mit dem, was nicht funktioniert hat.

 

Systemgedanke und Selbstorganisation:
Systeme passen sich der Umwelt an, welches in dem Sinne mit dem agilen Gedanken übereinstimmt, da auch hier der Kunde im Fokus steht und sich daraufhin alle Prozesse im System anpassen.

Die (radikale) Systemtheorie postuliert, dass sich Systeme von außen nicht steuern lassen, denn das Systemverhalten lässt sich nicht vorhersagen, geschweige denn instruieren. Die moderne Systemtheorie geht davon aus, dass Berater aber Impulse von außen an das System tragen können. Die Entscheidung über Annahme, Anpassung oder auch Ablehnung trifft das System.

Ebenso verhält es sich mit der Selbstorganisation im Rahmen der Agilität: Veränderung funktionieren nicht über Appelle und Anweisungen, sondern die Teams finden von innen heraus selbst einen Weg. Impulse, die bspw. von einem systemischen Berater gegeben werden, werden aufgenommen.